Neuraltherapie

Die Zeit wird kommen, wo das, was jetzt noch verborgen ist, durch den Fleiß der Forscher vieler Jahrhunderte ans Tageslicht gebracht sein wird. Zur Klärung so gewaltiger Probleme reicht ein Menschenalter nicht aus, selbst wenn man sich auf den Himmel allein beschränkte. …Darum werden diese Dinge erst im Laufe vieler Generationen zu ermitteln sein. Die Zeit wird kommen, dass sich unsere Enkel wundern werden, dass wir von vielem nichts wussten, was ihnen ganz klar erscheint. Die Welt wäre ein armseliges Ding, wenn nicht alle Welt an ihr zu forschen hätte.
Seneca | Geschichtliche Einführung

Die Entdecker der Sekunden-Heilung

Mitten am Tage sind die Reklamebeleuchtungen eingeschaltet. Dicker Nebel brütet in den Strassen. Ein unfreundlicher Herbsttag lastet über Düsseldorf. Eine Grippewelle setzt viele Menschen außer Gefecht. Das feuchte Wetter spielt kranken und alten Leuten besonders übel mit. Es ist ein Novemberabend des Jahres 1925.
Die Praxis der beiden Arztbrüder Dr. Ferdinand und Dr. Walter Huneke im Haus Erwin-von-Witzleben-Stasse 17 ist Überfüllt, 25 Frauen und 21 Männer warten auf eine Untersuchung und auf Linderung ihrer Schmerzen. Die Hunekes haben einen guten Ruf in der Stadt. Sie nehmen sich für ihre Patienten gründlich Zeit.
Dr. Ferdinand Huneke, 33 Jahre alt, hat gerade einen pensionierten Oberst verarztet, dessen Kriegswunde wieder aufgebrochen ist. Der betagte Soldat verabschiedet sich mit einem festen, dankbaren Händedruck vom Doktor.
Kaum befindet sich der Patient auf dem Korridor, da stürzt Schwester Inge, die Sprechstundenhilfe Ferdinand Hunekes zur Tür herein: „Doktor, Ihre Frau Schwester ist draußen. Sie sieht sehr leidend aus. Es geht ihr wieder gar nicht gut. Sie möchte unbedingt vorgenommen werden.“
Huneke blickt besorgt vom Schreibtisch auf: „Was hat sie denn? Wieder diese entsetzlichen Kopfschmerzen, diese teuflische Migräne?“
Schwester Inge nickt.
„Holen Sie sie herein, und sagen sie den Patienten draußen, sie sollen ein wenig warten, und rufen Sie bitte meinen Bruder herüber.“
Die 29 jährige Schwester macht ihm große Sorgen. Sie leidet seit vielen Jahren an schwerster Migräne. Die Schmerzen sind oft so stark, dass sie fürchtet, den Verstand zu verlieren. Und weil sie sich seit Wochen wieder so schlecht fühlt, ist sie ins Haus Ihrer Brüder gezogen, um jeder Zeit Hilfe bekommen zu können. Auch Dr. Walter Huneke weiß keinen Rat. Die Brüder können Ihrer Schwester nur vorübergehend Erleichterung durch Injektionen verschaffen. Aber sie sehen keine Chance die Schwester zu heilen.
Die Tür schwingt weit auf. Walter Huneke betritt mit der blassen Schwester den Raum.
„Ferdinand“ , flüstert sie verkrampft, „Ich halt das nicht mehr aus, es sind ja nicht nur die Schmerzen, auch die Depressionen werden immer schlimmer. Bitte. Bitte gib mir eine Spritze, eine gut Spritze.“
Sie blickt den Bruder flehend an. Dr. Walter Huneke explodiert: „es ist wirklich eine medizinische Schande, dass zwei ausgelernte und erfolgreiche Ärzte ihrer eigenen Schwester nicht helfen können. Warum, frage ich mich, warum hat es noch keinen unseren Herren Kollegen fertig gebracht, diese quälenden rheumatischen Schmerzen im Kopf zu heilen?“
Ferdinand Huneke sieht seine Schwester an: „Bei wie viel Ärzten warst du deswegen schon erfolglos?“ „Es waren 16…“, lautet die lakonische Antwort.
„Ich will dir nichts injizieren, was dich nur für Stunden beruhigt. Das hat ja keinen Sinn mehr. Das schadet nur dem gesamten Organismus. Aber ich habe da etwas neues, ein besonderes Rheumamittel. Der Doktor Helmerstorffer hat es mir empfohlen. Er beobachtete damit zufrieden stellende Erfolge.“
Ferdinand reicht seiner Sprechstundenhilfe Inge die Packung: „Ziehen sie die Spritze auf, Schwester.“
Sie stellt die Packung zu den anderen auf Hunekes Schreibtisch, holt die Injektionsspritze, füllt sie dann und reicht sie dem Arzt
Ferdinand Huneke spritzt ausgezeichnet in die Vene, routinemäßig blickt er seiner Schwester ins Gesicht und beobachtet: Hatte sie sich bisher nach jeder Injektion noch minutenlang im Krämpfen gewunden, so atmet sie erleichtert auf, als der Spritzenkolben das Medikament noch in die Blutbahn presst.
„Was ist den heute mit dir?“ fragt er erregt. Langsam, aber selbst erstaunt, antwortet sie: „Ferdinand, das ist ein herrliches Mittel. Der Kopfschmerz ist bereits weg. Das Flimmern vor meinen Augen hat aufgehört. Das Gefühl ist schlagartig verschwunden. Ich fühle mich wie geheilt…““
Dr. Ferdinand atmet erleichtert auf: „Endlich haben wir was gefunden, was dir hilft.“ Er wendet sich an seinen Bruder: „Wir müssen uns dieses Mittel merken, wie heißt es schnell….“
Die Frage gilt seine Sprechstundenhilfe. Sie holt die Packung der Ampulle aus dem Abfalleimer und erbleicht: „Doktor, ich habe einen Fehler begangen, wie mir das passieren konnte. Ich habe die Spritze nicht mit dem Rheumamittel aufgezogen…“
„Inge, sind sie wahnsinnig? Wie konnten sie nur so unverantwortlich handeln…?“
„Lass sie doch“, mischt sich die Schwester der beiden Ärzte ein, „es hat mir geholfen, das genügt mir!“
Huneke steht ganz nahe vor der Sprechstundenhilfe, und packt sie am weißen Mantel: „Was um alles in der Welt haben sie in die Spritze gezogen?“
Stotternd kommt die Antwort: „Atophanyl…“ Huneke atmet erleichternd durch. Also, nichts gefährliches. Es ist ein Rheumamittel mit einem starken Novocainzusatz. Novocain wird vor allem in der Zahnarztpraxis zur Lokalanästhesie verwendet.
Seine Schwester blieb seit dieser Injektion beschwerdefrei, so entdeckten die Brüder Huneke, aus einem Zufall, das Sekundenphänomen und den Anfang der Neuraltherapie.

Die Neuraltherapie

Die Neuraltherapie heilt über die Injektion. Dabei kommt es weniger auf das Mittel zur Injektion an als einzig und allein auf den Ort der Injektion. Unbedingt erforderlich ist nur der Procainzusatz, ein Lokalanaesthetika. Die Heilanästhesie wirkt schmerzstillend, entzündungshemmend, evtl. lymphagog und kann die Gerinnung ändern. Dabei werden lokale, segmentale und übergeordnete hormonelle Regelkreise angesprochen.

Wirkung

Eine Zelle braucht zur korrekten Funktion eine Amperzahl von -90 mV. Bei einer Störung, sprich „Krankheit“ der Zelle ist dieses Eigenpotential verschoben und die Zelle hat keine korrekte Funktion. Mittels der Injektion mit Procain, das ein Eigenpotential von ca. + 270 mV besitzt, bekommt die Zelle einen Spannungsstoss. Die Zelle besitzt kurzzeitig ein Potential von ca. + 190 mV (- 80 mV + 270 mV = + 190 mV) und pendelt sich durch diesen Reiz wieder in ihren normale Bereich ein.

Procainwirkung

Vegetativ ausgleichend
Schmerzstillend, spasmolytisch
Kreislaufanregend, -regulierend
Entzündungshemmend
Antiallergisch
Gefäßerweiternd
Gefässabdichtend
Grosse Mengen bewirken Krämpfe, Antidot ist Koffein
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Indikationen

Schmerz- und Entzündungszustaende
Chronische Erkrankungen
Stoerfeldgeschehen
Funktionelle – vegetative Beschwerden
Hormonelle Störungen
Rehabilitation bei Schwaechezustaenden
Tumorleiden (audjuvante Schmerztherapie)
Prophylaxe (Morbus Sudeck)
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Die Testquaddel

Vor jeder Behandlung mit Procain oder Lidocain ist der Patient Vorzutesten, d.h. es ist ihm eine Testquaddel, z.B. am Unterarm von 0,1 ml der Injektionslösung zu injizieren. Dieser Test dient zur Überprüfung, ob und wie der Patient auf das Medikament reagiert. Nach der Testquaddel wartet man einige Minuten und beobachtet den Patienten. Zeigt die Injektionsstelle keinerlei Veränderungen, in Form von z.B. Rötung, kann die Neuraltherapie am Patienten angewandt werden. Zeigt sich eine großflächige Rötung, ist der Patient allergisch gegen das Präparat. Gefahr einer anaphylaktischen Reaktion ist gegeben. Patient nicht mit Procain behandeln, gegebenen falls anderes Medikament verwenden (Lidocain oder Sensitin…, auch diese Präparate mittels der Testquaddel am Patienten testen). Der Patient ist mindestens zweimal zu testen, d.h. ist der Test negativ kann man die Neuraltherapie mit dem gewählten Präparat durchführen, kommt der Patient an einem anderen Tag wieder, muss man vor der erneuten Injektion den Patienten wieder testen.

Was ist eigentlich eine Quaddel? Eine Quaddel ist eine Injektion in die Haut, also i.c., es handelt sich nur um eine Quaddel, wenn sich eine blasse Papel bildet!!! Man kann von 0,1 bis 0,5 ml i.c. injizieren.

Kontraindikationen

Allergien gegen das Lokalanaesthetikum. Echte Allergien gegen Procain und Lidocain sind sehr selten. Unverträglichkeit durch Konservierungsmittel und unnötigen Zusatzstoffe. Deshalb nur Ampullen verwenden, keine Stechflaschen, weil Konservierungsstoffe enthalten sind. Gelegentliche kleine Kreislaufreaktionen sind keine Kontraindikation.
Keine tiefen Injektionen durch die bakteriell infizierte Haut hindurch
Ablehnende Haltung des Patienten
Schwere Infektionskrankheiten und immunologische Erkrankungen (z.B. Tbc, MS)
Narbig veränderte Endzustände z.B. Leberzirrhose (sprechen nicht an)
Erbleiden, Geisteskrankheiten, Mangelerkrankungen sind keine Indikation
Kontraindikationen für tiefe Injektionen: Gerinnungsstörungen und Patienten, die unter Antikoagulantien-Thrapie stehen, haemolytische Diathese

Risiken der Neuraltherapie

Bei guter Kenntnis der Anatomie, der Injektionstechniken und Einhaltung der Hoechstdosen äußerst risikoarme Therapieform
Allergien und Medikametennebenwirkungen kommen praktisch nicht vor, wenn auf Zusatzstoffe verzichtet wird
Eine ernsthafte Komplikation kann die Nachblutung bei vorher nicht bekannter Gerinnungsstörung sein
Bei unsachgemässer Anwendung können allerdings mit der Neuraltherapie erhebliche Schäden verursacht werden. Hierzu gehören besonders intravasale Injektionen im Kopfbereich oder tiefe Injektionen ohne anatomische Kenntnisse (z.B. Grenzstrang, Thorax, gynäkologischer Raum)
Notfallausrüstung muss zur Verfügung stehen!

Techniken der Neuraltherapie

Segmenttherapie
Störfeldsuche
Reiztherapie
Lokalbehandlungen
Dornkranz nach Hopfer, bei Migräne, zerebralen Durchblutungsstörungen…
Bauchkranz nach Hopfer, bei abdominalen Erkrankungen
Quaddelschemata, bei Augenerkrankungen, Teil der Sinusitisbehandlung, Störfeldsuche…
Thorakale Quaddelungen, bei Erkrankungen der Lunge und Bronchien, funktionelle Herzbeschwerden…

Arbeitsmaterial

Nadeln: 20er, 12er, 60 * 0,8 mm und 120 * 1,0 mm, auf die Qualität der Utensilien achten.
Spritzen: 2 ml und 5 ml Spritzen, größere sind wegen des hohen Spritzenwiderstandes unbrauchbar.
Neuraltherapeutika:
– Procain und Lidocain (1% ist ausreichend, keinerlei Zusätze verwenden)

Retrospektive Studie: Procain und seine Nebenwirkungen

Studie der Firma PASCOE

Die Untersuchung dieser Arbeit beziehen sich auf den Zeitraum von 1975 bis 1987 und auf 865 Patienten, die mit Procain ambulant behandelt wurden.
Der Behandlung mit therapeutischer Lokalanästhesie lagen folgende Diagnosen zugrunde:

Hals-Wirbelsaeulen-Syndrom
Lenden-Wirbelsäulen-Syndrom
Schulterarm-Syndrom
Neuralgie, Ischialgien, Neuropathien
Kopfschmerzen (Migräne, vasomotorische Kopfschmerzen etc.)
Trigeminus-Neuralgien
Osteochondrose
Postoperative Schmerzsyndrome und Narbenscherz
Karzinomschmerz
Post-Zoster-Neuralgien
Akuter Herpes zoster
Die Altersgruppe der 51 – 60jaehrigen war am häufigsten vertreten (23,8%). Erstaunlich hoch war auch die Zahl der über 80jaehrigen mit 16 Patienten = 4,4 %.

Nebenwirkungen bei n = 865 Patienten

In 13 Fällen zeigte die Anamnese allergische Reaktionen wie Heuschnupfen, allergisches Asthma bronchiale etc. Allergische Reaktionen auf Procain zeigten diese 13 Patienten bei der Vortestung nicht.
Bei 8 Patienten traten Kreislaufbeschwerden auf, die sich als Unruhe, Schwindel und in 2 Fallen als Kollaps aeusserten, also so genannte substanzinduzierte Nebenwirkungen, die kurzfristig durch Gegenmassnahmen zur restitutio ad integrum führten.
In 6 Fällen wurde eine Erstverschlimmerung beobachtet. D.h. die geklagten Schmerzen traten unmittelbar nach der Injektion verstärkt auf, so dass in einem Fall die Therapie abgebrochen werden musste.
Bei sämtlichen 865 Patienten konnte keine anaphylaktische bzw. anaphylaktoide Reaktionen nicht beobachte werden.
Prof. Dr. med. Dr. med. dent. F. H. Herget
Funktionsbereich Schmerztherapie
Zentrum für Chirurgie, Anästhesiologie
und Urologie der Justus-Liebig-Universitaet
Feulgenstrasse 12
35385 Giessen